Interview mit Jasna Mittler

Sie sind in der Vulkaneifel aufgewachsen, haben in Hildesheim Kreatives Schreiben studiert und leben seit einigen Jahren in Köln. Mit der Arbeit an Ihrem Roman BLAU-AUGE sind Sie in Ihre Heimat zurückgekehrt. Wie war das?

Auch wenn ich 1995 zum Studium nach Hildesheim gezogen bin, bin ich mit meinem Heimatort eng verbunden geblieben und habe meine Familie dort regelmäßig besucht. Ehrlich gesagt habe ich die Gegend, aus der ich komme, sogar erst nach meinem Weggang richtig zu schätzen gelernt. Als ich selbst noch in Mendig, dem Hauptschauplatz des Romans, gewohnt habe, habe ich mich immer nach dem Leben in der Großstadt gesehnt. Seit Ende 2000 lebe ich jetzt in Köln und genieße es, wenn ich „nach Hause“ fahren kann. Die Vulkaneifel bietet so schöne Landschaften, da ist jeder Familienbesuch wie ein Kurzurlaub.

Hanna, die Hauptfigur im zeitgenössischen Erzählstrang Ihres Romans, ist Bildhauerin. Man merkt den Beschreibungen der Arbeitsszenen an, dass Sie viel von diesem Handwerk oder dieser Kunst verstehen.

Mein Vater war Bildhauer, er hatte seine Werkstatt gleich hinter unserem Haus, und ich bin von klein auf mit seiner Arbeit vertraut gewesen. Die Werkstatt war für mich ein Abenteuerspielplatz, da gab es so viel zu entdecken! Auch in unserem Haus fanden sich überall Skulpturen – als Kind habe ich sie in meine Spiele integriert, habe ihnen Namen gegeben und mir Geschichten dazu ausgedacht. Ich habe auch selbst schon früh mit den verschiedenen Materialien gearbeitet, mit Ton modelliert, Sandstein geschnitzt. Später hat mir mein Vater das Schweißen beigebracht, da er selbst Plastiken aus Schrottteilen geschweißt hat, vor allem Motorräder. Aber ich habe das Handwerk nie „richtig“ erlernt, es war für mich immer eher spielerisch.

Blau-Auge ist ein besonders großer blauer Kristall, den in Ihrem Roman junge Mädchen von ihren Verehrern geschenkt bekamen. Gab es diese Sitte tatsächlich? Und findet man wirklich solche Kristalle beim Wandern?

(lacht) Oh, da haben Sie jetzt eine der Stellen des Romans erwischt, an der die Fantasie mit mir durchgegangen ist. Diese Tradition, Haüyne zu sammeln, um damit auf Brautwerbung zu gehen, habe ich frei erfunden. Aber wer weiß, vielleicht gab es sie mal und sie ist in Vergessenheit geraten? (lacht) Nein, im Ernst – ich glaube nicht, dass unsere Vorfahren mit den Mineralen viel anfangen konnten. Sie sind erst vor wenigen Jahren als Schmucksteine entdeckt worden und heute sehr begehrt. Es gibt viele Leute, die die Kristalle sammeln und die besten Fundorte dafür kennen – meist in ehemaligen Basalt- oder Bimsabbaugebieten. Aber man kann sie tatsächlich auch einfach beim Spazierengehen finden, wenn man genau hinsieht!
Mich haben die Steinchen jedenfalls von Kindheit an fasziniert. Vor ein paar Jahren habe ich mich dann gefragt, wo eigentlich der seltsame Name herkommt, Haüyn, und angefangen, zu recherchieren. Als ich dann erst auf René Just Haüy, später auf seinen Bruder Valentin Haüy und dessen Begegnung mit der blinden Pianistin und Komponistin Maria Theresia Paradis gestoßen bin, wusste ich, dass ich darüber schreiben muss!

René Just Haüys Todestag jährt sich nächstes Jahr zum 200. Mal. Aus diesem Anlass wurde 2022 zum Jahr der Mineralogie erklärt. Sie haben sich bei Ihren Recherchen zum Roman eingehend mit seinem Leben und Wirken beschäftigt. Was hat Sie daran fasziniert?

Ja natürlich, ich habe alles über René Just Haüy gelesen, was ich in die Finger bekam. Die Recherche zu BLAU-AUGE hat sich über einige Jahre hingezogen. Nicht alles, was mich an den Brüdern fasziniert hat, hat Eingang in den Roman gefunden – man muss sich irgendwann entscheiden, welche Informationen der Geschichte dienlich sind, und welche nicht. Da heißt es dann „kill your darlings“, und ich musste manche liebgewonnenen Szenen aus dem Manuskript streichen. Was mich besonders interessiert hat, war die Faszination und Hartnäckigkeit, mit der René Just Haüy gearbeitet hat. Er war überzeugt, dass es ein Bauprinzip der Kristalle gibt, das kannte man ja damals noch nicht. Und tatsächlich hat er es dann durch Zufall entdeckt, weil ein Kristall zu Bruch ging – und er die Aufmerksamkeit und Geistesgegenwart bewies, in den Bruchstücken ein System zu erkennen.
Er war anscheinend immer so von seiner Arbeit vereinnahmt, dass er die Welt um sich herum völlig vergessen konnte. Während der Französischen Revolution wurde er 1792 gemeinsam mit anderen Geistlichen inhaftiert, aber die Schwere seiner Lage war ihm anscheinend gar nicht bewusst. Er hat sich in seiner Zelle ein improvisiertes Labor eingerichtet und die Welt um sich herum vergessen. Als er durch die Fürsprache einiger Gönner befreit wurde, war ihm das angeblich erstmal gar nicht recht – so versunken war er in seine Arbeit. Es war eine Rettung in letzter Minute, viele der anderen inhaftierten Priester wurden kurz darauf bei einem Massaker getötet, das wäre auch sein Schicksal gewesen.

Nicht weniger faszinierend ist der Lebensweg von René Justs Bruder Valentin Haüy, ein ganz anderer Charakter als sein Bruder …

Das stimmt, die beiden Brüder scheinen sehr unterschiedlich gewesen zu sein. René Just war ein Kirchenmann, Valentin ein Anhänger der Aufklärung. Das finde ich auch so interessant an den beiden, dass sie das gesellschaftliche Spannungsfeld der damaligen Zeit verkörpern. Die Kirche, der Glaube, das Konservative auf der einen Seite, die Aufklärung, der Aufbruch, das Neue auf der anderen Seite.
Valentin Haüy ist ebenfalls ein sehr interessanter Charakter. Er hat das erste Blindeninstitut gegründet, das unabhängig vom gesellschaftlichen Status allen Blinden offenstand, nicht nur den Reichen. Sein Hauptanliegen war es, Blinden das Lesen und Schreiben zu ermöglichen, als Grundlage aller Bildung. Er hat dafür ein eigenes Alphabet entwickelt, bei dem die Buchstaben plastisch, also fühlbar ins Papier geprägt wurden. Eine erste Blindenschrift!

Der Roman führt die Leserinnen und Leser also auch nach Frankreich und Paris und durch verschiedene Zeitebenen. Dabei geht es auch um die im Lauf der Geschichte immer wieder wechselnde und umstrittene staatliche Zugehörigkeit einer Grenzregion.

Ja, das Thema Deutschland und Frankreich zieht sich durch den Roman. Da ist auf der zeitgenössischen Ebene die junge Hanna, für die es selbstverständlich ist, mal eben mit dem Thalys in ein paar Stunden nach Paris zu fahren und sich dort ganz frei zu bewegen. Dabei waren die beiden Länder über Jahrhunderte hinweg verfeindet, das vergisst man so leicht! Bei der Recherche wurde mir immer wieder bewusst, dass diese Freiheit und der Frieden keine Selbstverständlichkeit sind. Wie leichtsinnig heute die europäische Idee über den Haufen geworfen wird, nur weil man fürchtet, die eigene Nation könne zu kurz kommen, finde ich sehr beängstigend. Nach nicht mal 80 Jahren Frieden haben wir uns anscheinend so sehr an den Zustand gewöhnt, dass wir vergessen, was für ein großes Glück das ist!
In den historischen Kapiteln des Romans herrschen andere Zustände. Da müssen sich die Brüder Haüy 1783 mit einer Vielzahl von Reiseerlaubnissen und anderen Papieren mühselig von Grenze zu Grenze durch die unzähligen Kleinstaaten hangeln, bis sie ihr Ziel in der Eifel erreichen. Später fällt das Rheinland für mehr als 20 Jahre unter französische Herrschaft, also wächst eine Generation als Franzosen heran, bis 1813, 1814 die Befreiungskriege gegen Napoleon wieder das Blatt wenden. Ab 1815 ist die Region dann preußisch und damit wieder mit Frankreich verfeindet. Aus heutiger Sicht frage ich mich, was dieses Hin und Her mit den Menschen gemacht haben mag.
Es folgten dann ja noch weitere Kriege zwischen den beiden Nationen: 1870/71, danach der Erste und der Zweite Weltkrieg. Die historische Ebene des Romans endet 1924, da steht den Figuren ein weiterer Krieg noch bevor. Ich beleuchte im Roman den Rheinischen Separatismus, der 1923 kurzzeitig Erfolg hatte. Es gab damals sehr unterschiedliche Strömungen unter den Separatisten. Interessant fand ich, dass einige den Ansatz verfolgten, das Rheinland als unabhängigen „Puffer“ zwischen Frankreich und dem preußischen Deutschland zu etablieren. Das war ein pazifistischer Ansatz, der weitere Kriege zwischen den beiden „Erbfeinden“ verhindern sollte – was ja leider nicht geklappt hat.

Von damals bis heute zeichnen Sie in Ihrem Buch das Bild eines eigenen, von der Landschaft und Lage der Eifel geprägten Menschenschlags. Was zeichnet diese Menschen aus?

Die Eifel wurde in der Preußenzeit ab 1815 als „preußisch Sibirien“ bezeichnet. Sie war arm, karg, mit schlecht ausgebauten Wegen. Es kam immer wieder zu Hungersnöten. Die Lebenserwartung lag damals bei 44 Jahren, das muss man sich mal vorstellen, das ist ja grade erst 200 Jahre her! Das Leben war hart, es bestand für die Menschen vor allem aus Arbeit und Religion. Der Glaube war das, woran man sich festhielt, um nicht zu verzweifeln. Die Preußen brachten der Region dann zumindest bessere Verkehrswege, Aufforstung und Zugang zur Bildung. Aber das Leben blieb hart und so etwas prägt die Menschen natürlich über Generationen.
Die Region, über die ich schreibe, vor allem der Ort Mendig (damals die beiden Gemeinden Niedermendig und Obermendig) hatte allerdings einen besonderen Status. Durch den Abbau des Vulkangesteins, vor allem des Basalts, verfügte man über einen Bodenschatz. Die aus dem Basalt gefertigten Mühlsteine waren schon im Mittelalter begehrt, und über den nahen Rhein konnten sie weltweit verschifft werden. Als durch die Erfindung der Stahlwalze Mitte des 19. Jahrhunderts der Mühlstein aus der Mode kam, haben sich Bierbrauereien in Mendig angesiedelt, um in den Basaltkellern Bier zu lagern. Ein neues lukratives Geschäft, dass auch die Landwirtschaft prägte – plötzlich war es angesagt, Hopfen und Malz zu kultivieren. Zeitweise waren 28 Brauereien in dem Dorf angesiedelt, bei nicht mal 4000 Einwohnern. Und wieder hat eine Erfindung die Situation drastisch verändert, denn als Carl von Linde seine Kältemaschine entwickelte, war es schnell vorbei mit dem Bierboom in Mendig.
Es gab in Mendig also immer wieder Aufschwung und Niedergang.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Stadt dann vor allem als militärischer Standort bekannt, dort betrieb die Bundeswehr bis 2007 einen Flugplatz. Bundeswehrsoldaten prägten das Stadtbild, als ich ein Kind war. Lustig ist, dass wir uns damals nicht der Eifel zugehörig fühlten. Die Eifel galt als bäuerisch und hinterwäldlerisch. Seit einigen Jahren steht der Eifel-Tourismus im Vordergrund, seither ist Mendig stolz darauf, der Vulkaneifel zuzugehören. Und da hat sich auch unheimlich viel getan, da gibt es mittlerweile viele spannende Entdeckungen und schöne Wanderwege. Die Region hat sich auf ihre landschaftliche Besonderheit besonnen, das hat ihr gut getan!

Vielen Dank!
(Das Interview ist für Pressezwecke frei.)

Jasna Mittler: Blau-Auge
Roman
ca. 320 S.
Klappenbroschur
13,90 EUR
ISBN 978-3-944359-61-8
erscheint
am 13. Oktober 2021